Eine inspirierende Geschichte über das offene Denken
Heute gibt es einen Gastbeitrag von Salvatore Anima für euch:
Es war bereits später Abend, als es bei Salvatore an der Türe klopfte.
„Wer ist da?“, rief er.
„Ich bin es; Franco“, war die Antwort.
Salvatore erhob sich von seiner alten Ledercouch und schlurfte den Flur entlang zur Türe. Mit einem leisen Knacken öffnete sich die Türe.
„Ich benötige deine Hilfe, Salva.“
„Fällt dir mal wieder nicht ein, was du schreiben sollst?“, fragte der alte Salvatore.
Franco nickte. „Ich benötige etwas Inspiration“, murmelte er.
Die beiden saßen bei einer Tasse Tee auf der kleinen Holzbank, die Salvatore in seinem Garten aufgestellt hatte. Der volle Mond am Himmel strahlte hell, beinahe so hell wie Tageslicht. Man konnte alles im Garten erkennen; jede Blume, jeden Kiesel und ja, sogar die Maus, die über die Wiese flitzte, war deutlich sichtbar.
„Schau mal“, sagte Salvatore, „manchmal, denke ich, ist es besser, nicht darüber nachzudenken, was man schreibt. Man sollte viel eher das schreiben, worüber man nachdenkt.“
„Aber wenn ich nicht nachdenke, dann kommt da auch nichts aus meinem Kopf“, murrte Franco.
„Quatsch! Das Problem ist, dass du dein Denken hinterfragst und bezweifelst. Du kritisierst, was du denkst und deswegen bist du mit deinen Ideen unzufrieden. In unseren Köpfen schlummert ein Kritiker, der nur darauf wartet, dass wir das machen, was wir lieben. Dann sieht er uns dabei zu und hackt ununterbrochen auf uns ein. Stimmt’s?“
„Ja, das stimmt“, antwortet Franco.
„So“, sagt Salvatore. „Du bewertest also durchgehend deine Gedanken. Und dann sagt uns dieser Kritiker im Geist, dass wir nur Unfug schreiben und alles doch sinnlos sei und niemand das lesen möchte. Kennst du solche Gedanken?“
„Ja, die kenne ich.“
„Wenn wir schreiben, dann sollten wir diesen Kritiker abschalten, einfach nur schreiben und nicht daran denken, es zu bewerten. Sich einfach mal nur Zeit zum Schreiben nehmen. Wenn der Text dann fertig ist, dann hat der Kritiker seine Berechtigung, sich einzumischen“, antwortete der alte Mann und griff nach seiner Tasse Tee.
Franco schwieg ein wenig und ließ das Gehörte in sich wirken. Aber er fühlte, dass das noch nicht so wirklich sein Problem gelöst hatte, denn er wusste noch immer nicht, was er nun schreiben und wie er das ohne zu denken machen solle.
„Du musst aus dir heraus schreiben, aus deinem tiefen Inneren“, gab ihm Salvatore als Rat.
„Aber wie schreibe ich denn aus meinem tiefen Inneren?“, fragte Franco.
Salvatore zeigte mit seinem Finger auf die Grashalme der Wiese. „Hast du dir schon mal darüber Gedanken gemacht, dass dir ein Grashalm eine Geschichte erzählen kann? Oder ein Blatt, das vom Baum fällt? Oder vielleicht auch eine Wolke, eine Ameise oder auch der Wind? Wenn mir mal früher die Inspiration gefehlt hatte, habe ich mich irgendwo hingesetzt und etwas betrachtet; den Grashalm beispielsweise. Ich habe überlegt, was diesen Grashalm ausmacht, was er so den ganzen Tag über macht und wofür er symbolisch stehen könnte. Ich würde ihn mit Wachstum in Verbindung bringen oder dass es ganz viele seiner Sorte gibt und er zusammen mit seinen Artgenossen das raueste Stück Land in saftiges Grün taucht. Aus diesen Gedanken können ganze Geschichten entstehen, wenn man sie tiefer ergründet und sich darüber bewusst macht, was man eigentlich betrachtet.
Wenn wir nicht nur ein Objekt oder Subjekt, sondern wirklich eine Metapher hinter dem Grashalm, dem Baum, dem Wind erkennen, dann ergeben sich aus ihnen ganz besondere und individuelle Geschichten.“
Franco dachte nach und dann riss er seine Augen ganz weit auf, so wie wenn man ewig nachdenkt und einem plötzlich die beste Idee aller Zeiten in den Sinn kommt. „Ich verstehe“, rief er so laut, dass Salvatores Nachbarn mit einem Schrecken wach wurden. „Ich könnte darüber schreiben, was Grashalme den ganzen Tag über erleben und sehen. So erzählt uns der Halm beispielsweise von den gefürchteten Klingen, die jedes Jahr aufs Neue mit lautem Surren über den Rasen hetzen und ihn stutzt oder von den Kindern, die darauf spielen, fallen, aufstehen und wieder lachen. Vielleicht hat die Wiese aber auch schon den Tod gesehen oder als Zeuge einer Geburt den weichen Grund für ein Rehkitz angeboten.“
Salvatore nickte zufrieden. „Richtig“, antwortete er. „Denke nicht so viel über das nach, was du schreibst, und überlege dir, vielleicht mal über etwas ganz Neues, offeneres nachzudenken. So kann alles zu deiner Inspiration werden.“